Ghana Oktober 2024
Wir sind mittendrin, und das heißt auch: Wohin mit all den Vorräten?
Wie immer: die warme herzliche Begrü.ung, tief empfundene Freude des Wiedersehens … sie lassen die heftigen Strapazen der langen Busreise von Accra nach Dormaa vergessen und schnell verschwinden. (Diesmal bin mit meinen fast 70 Jahren spontan unserer Mma Davy in die Arme gesprungen – wohl wissend allerdings: sie hält mich!) Und das deutliche, ganz klare Gefühl: hier finde ich etwas wieder, von dem ich Zuhause gar nicht wusste, dass es mir fehlte!
Erster Eindruck
Den mittlerweile 24 Kindern geht es gut! Vor allem hat mich beeindruckt, wie hilfsbereit und ja: liebevoll die Großen sich um die Kleinen kümmern. Bright (21Jahre), der sich nur auf den Knien fortbewegen kann, füttert schon seit 2 Jahren den kleinen Dad, und das ist eine wahrlich nicht einfache Geschichte: Dad isst nicht gerne, kann nur schwer schlucken, aber bei allen drei Mahlzeiten sitzt Bright neben ihm und gibt sich die größte Mühe, dass der kleine Kerl etwas Nahrung zu sich nimmt. Da hat es Maamee Yaa (10 Jahre) etwas einfacher: mit gekonnt mütterlichen Griffen nimmt sie die kleine Maadwoa auf ihren Schoß, füttert sie liebevoll, säubert den Essplatz, wäscht anschließend alle gebrauchten Lätzchen… sie macht es gerne, richtig gerne, das sieht man.
Zwei neue Kinder sind aufgenommen worden: die kleine Maadwoa und Kwensi. Dann bringt jeden Morgen ein Vater seinen Sohn Julian ins Center und holt ihn abends wieder ab. Auch am Wochenende bleibt Julian zuhause. Der Vater ist Schreiner, er ist mittlerweile unser „Hausschreiner“.
Obwohl ich es wusste: gefehlt hat mir Nyamekye. Er ist zu Beginn des Jahres gestorben, ist mittags eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht. Er war der besondere Schützling von unserer Mma Davy – sie hat sehr um ihn getrauert.
Der Vorratsraum ist voll! Und nicht nur der: ein zusätzliches zur Zeit noch leeres Zimmer ist vollgestopft mit Toilettenpapier, riesigen Reissäcken, Waschpulver, Wasserflaschen, Pampers, Palmöl, Seife… Die Fülle dieser macht deutlich, dass mittlerweile viele Menschen und auch Organisationen aus Dormaa unser Center besuchen und stets die üblichen Geschenke mitbringen. Mir war klar: hier muss etwas geschehen!
Auch ein erster Eindruck: alle Wände unseres Centers, die zum Innenhof hin zeigen, wurden frisch gestrichen. Die vorher blau,gelb und orange gestrichenen einzelnen Hauseinheiten sind jetzt einheitlich beige. Die Farbe war noch feucht, als ich ankam. Es sollte wohl eine Überraschung sein. Auf mich wirkte es ein bisschen wie „saubere Missionsstation“. Auch wurde die ganze untere Holzverkleidung mit brauner Farbe zugestrichen.
Hm. Ich musste gleich an Isaac denken. Vor 16 Jahren habe ich ihn als Schüler im Baobab-Center im Süden Ghanas kennen gelernt, damals schon ein begabter Maler. Heute arbeitet er im Baobab-Guesthouse in Cape Coast, in dem ich meist meine letzten Ghana – Tage verbringe und wie gerade jetzt den Ghana – Brief schreibe. In seiner freien Zeit ist Isaac als freier Künstler tätig.
Gleich nach meiner Ankunft hier in Cape habe ich ihn gefragt, ob er sich vorstellen kann, für ein paar Tage nach Dormaa zu fahren und dort die nackten Wände mit afrikanischen Mustern (wie ein Fries) zu verschönern. Er hat sofort zugesagt! Bin gespannt.
Für einen ersten Eindruck war das ganz schön viel!
Handwerkerhaus
Seit einem Jahr stehen auf der ehemaligen Müllkippe ein Handwerkerhaus, in dem zwei Gewerke ausgeübt werden können, und unser Gästehaus. Die Idee war ja, dass sich dort Handwerker niederlassen und sie im Gegenzug zu mietfreiem Wohnen einige unserer Großen unter ihre Fittiche nehmen und diesen ein Stück Welterfahrung und Teilhabe ermöglichen.
Rita, die Frau unseres Lehrers und Hausvaters Ayala, hat ein paar Monate nach der Geburt ihres dritten Sohnes einen Werkraum mit ihrer Schneiderei belegt. Jeden Nachmittag sitzen dort zwei bis drei unserer größeren Mädchen, schauen zu wie Rita schneidert (zunächst Festtagskleider für unsere Kinder) und versuchen erste Nähschritte von Hand.
Das zweite Handwerkerzimmer stand auch bei meiner Ankunft noch leer. Nana Owusu, unser Manager, berichtete mir, wie schwierig es sei, Handwerker zu finden, die bereit sind, mit unseren Jugendlichen zu arbeiten. Sie befürchten Gehaltseinbußen. Nana Owusu und ich kamen überein, zusätzlich zum freien Wohnen ein kleines Grundgehalt anzubieten, um zumindest für den Anfang die Angst vor finanziellen Einbußen zu nehmen.
Und dann kam der sogenannte afrikanische Zufall (davon gibt es mehr als bei uns in Europa, finde ich!): Auf dem Klinikgelände begegneten wir „zufällig“ einem alten Bekannten von Nana Owusu, einem Schuhmacher. Wir kommen ins Gespräch, der Schuhmacher zeigt Interesse, kommt ein paar Tage später ins Center und sagt zu! Er ist selber leicht körperbehindert und hat keinerlei Probleme mit unseren Kindern zu arbeiten. Anfang Dezember möchte er einziehen. Ich bin gespannt.
Noch mehr Kinder?
Die Anmeldeliste ist lang, die Not der Eltern und Kinder groß…. Und dennoch: Immer werden die Kinder, wenn sie zu uns kommen, von ihren Eltern getrennt, die nur selten anschließend ins Center kommen, um ihr Kind zu besuchen, wie bei der Aufnahme eigentlich vereinbart. Und wenn sie kommen, dann ist es immer ein großes inneres Fest für das Kind. Auch wenn die Kinder es bei uns meist viel besser haben als Zuhause…
Zwei unserer Mmas leben und arbeiten bei uns und haben ihre Tochter bzw. Enkelin mit Behinderung gleich mitgebracht. Und das geht gut so! Und so entstand die Idee, als nächstes nicht nur ein Kind sondern auch gleich seine Mutter aufzunehmen, die bei uns ein Zimmer und natürlich eine Aufgabe, ja eine Lebensperspektive bekäme. Sie wäre eine zusätzliche Mma in unserem Center mit festem Einkommen. Nach einer gewissen Eingewöhnungszeit würde sie zwei oder drei weitere Kinder bei sich aufnehmen, solche die aus besonders schwierigen Verhältnissen kommen.
Alle fanden diese Idee gut, waren aber skeptisch, ob wir eine solche Mutter fänden. Die meisten wollen lediglich ihr Kind auf eine mehr oder wenige elegante Art loswerden bzw. sehen aufgrund ihrer persönlichen Lebenssituation keinen anderen Weg. Nana Ayala telefonierte die Anmeldeliste durch. Und tatsächlich: eine Mutter mit ihrem siebenjährigen Kind, das wie ein Säugling in ihren Armen lag, erklärte sich mit unserem Modell einverstanden. Im Dezember möchte sie bei uns einziehen, zunächst für einen Monat auf Probe, und dann entscheiden alle gemeinsam, wie und ob es weiter geht. Ich bin gespannt.
Unsere Vorräte
Mit dieser Entscheidung ging einher, dass unbedingt an unserer „Vorratssammlung“, die sich ja mittlerweile auch auf das noch freie Zimmer erstreckt, irgendwie gearbeitet werden musste. Wöchentlich (manchmal öfter) kommen Menschen zu uns, die uns unterstützen möchten. Das freut uns sehr, wir kommen immer mehr an in der Bevölkerung, ja, manchmal hatte ich das Gefühl, wir sind mittendrin. Zweimal haben uns in den vier Wochen, in denen ich da war, ganze Schulklassen besucht.
Die kleinen Kinder wirkten etwas befremdet, erschrocken. Ich war mir nicht sicher, ob das an unseren sehr besonderen Kindern lag oder gar an meiner Hautfarbe… Immer wieder griffen vorsichtig und verstohlen Kinderhände nach meinen Armen…
Und natürlich bringen alle freudig stapelweise Toilettenpapier, Reis… mit!
Den Besuchern unseres Centers zu sagen, dass ihre Gaben nicht so erwünscht sind, wir uns mehr über Yams, frisches Gemüse, vielleicht sogar etwas Fleisch oder Fisch freuen würden – irgendwie geht das nicht, das wäre verletzend. Es geht auch nicht, die vielen Dinge zu verkaufen – das käme auch schräg an, in der Bevölkerung. Wir sind in die Offensive gegangen und haben in einer lokalen Radiosendung unsere Lage geschildert und um Abstand von Toilettenpapier und Reis usw. gebeten. Geldspenden sind natürlich immer willkommen, da wir ja ausschließlich von Spenden leben. Dann haben wir auch entschieden, einen Teil unserer Vorräte an Bedürftige zu verschenken. Davon gibt es viele, und Nana Owusu und Nana Ayala versicherten mir, dies sei ein guter und gangbarer Weg.
Wir haben gleich damit begonnen und haben unsere alte Mma Yaa besucht,sie ist vor kurzem in Rente gegangen. Sie lebt in Dormaa bei ihrer Tochter in für mich immer noch sehr erschreckender, unbeschreibbarer (und unfotografierbarer) Armut bzw. Armseligkeit. Sie hat unser Center aufgrund gesundheitlicher Probleme verlassen, ihr Knie schmerzte sehr und auch sonst fühlte sie sich nicht wohl. Wir haben ihr vom Center aus ein ghanaübliches „Rentenpaket“ gegeben. Mit diesem Geld hätte sie etliche Jahre gut leben können. Mma Yaa hat es aber vorgezogen, fast das gesamte Geld einem Voodoo- Heiler zu geben, der ihr offensichtlich auch nicht geholfen hat. Nana Owusu versicherte mir, viele sog. Voodoo-Heiler seien reine Scharlatane, die nur aus Geldgier alte traditionelle Heilkunst anbieten, die in diesem Fall jedoch nicht wirke.
Es gebe noch wenige Voodoo-Heiler, die über alte spirituelle Heilkräfte verfügen, dafür aber nie Geld verlangen. Freiwillig könne man ihnen etwas geben, das brauche aber nie viel zu sein.
Unsere alte Mma Yaa hat sich jedenfalls über den Reis, das Toilettenpapier, das Palmöl, das Waschpulver… gefreut.
Physiotherapie
Die Kinder haben schon seit mehreren Jahren Physiotherapie, unser jetziger Physiotherapeut kommt drei bis viermal in der Woche ins Center, und wir sind sehr zufrieden mit ihm.
Bei den vielen Kindern, die mittlerweile bei uns leben und von denen die meisten dringend Physiotherapie benötigen, schafft unser Therapeut nur kleine Übungseinheiten pro Kind. Das ist zu wenig. Er ist auf der Suche nach einem Assistenten – bisher erfolglos. So entstand die Idee, dass unsere Mma Ekua, deren Onkel Physiotherapeut ist, sowie unser guter Lehrer und Hausvater Nana Ayala jeden Morgen die vom Physiotherapeuten angeleiteten Übungen durchführen.
So haben wir die Zuversicht, dass diese erweiterte Therapie Früchte tragen wird.
Trommeln
Schon seit Jahren wünsche ich mir, dass unsere Kinder teilhaben können an typisch ghanaischer Kunst und Kultur. Und da gehört das Trommeln unbedingt dazu. Es gab sogar von Aachen ausgehend die Bemühung, einen ghanaischen Trommler aus Winneba (liegt ziemlich weit weg von Dormaa) zu bitten, einen Workshop für unsere Kinder abzuhalten.
Und hier kommt wieder der „afrikanische Zufall“ ins Spiel: Nana Owusu und ich sitzen im Auto, wir befinden uns auf der Rückfahrt von einem Erntedankfest. In einer Kurve tritt Nana heftig auf die Bremse, er zeigt auf ein Haus und erklärt mir, dass dort ein Trommler wohnt, der auch selber Trommeln baut. Erst beim Vorbeifahren ist es ihm wieder eingefallen…
Wir kamen mit dem Trommler ins Gespräch, er erklärte sich bereit, für uns vier Trommeln zu bauen. Schon nach wenigen Tagen liefert er sie ins Center und sagt auch fest zu, einigen unserer Kinder Trommelunterricht zu geben. Kurz nachdem ich das Center verlassen habe, wollte er beginnen.
Ein Traum ist in Erfüllung gegangen!
Unsere kleine Weberei
Schon vor Jahren habe ich einige Schulwebrahmen ins Center gebracht, auf denen vor allem Bright mittlerweile wunderschöne Deckchen aus reiner Wolle webt. Manche von ihnen habe ich auch in diesem Jahr zu einem Wandteppich verarbeitet, er hängt jetzt im Klassenraum.
Dann gibt es noch die kleinen quadratischen Topflappen-Webrahmen, auf denen kleine Flickenteppiche gewebt werden, die zusammengenäht Fußmatten ergeben. Dann habe ich aus der „Filzblüte“ in Aachen die Inspiration und praktische Hilfe erhalten, größere Sizkissen-Webrahmen einzuführen. Sam schafft es unter größter Anstrengung und Konzentration wunderbare Sitzkissen zu weben.
Das Kinderparlament
Der frühe Abend, wenn Hitze und Staub des Tages sich zur Ruhe begeben haben, ist eigentlich die schönste Zeit. Die Kinder sind gefüttert und gewaschen, einige nutzen diese Zeit bis zum Schlafengehen zum Spielen auf unserem gefliesten Innenhof. Für eine etwas heftigere Dynamik und Lautstärke sorgen die vier Jungs unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich äußerst munter am Geschehen beteiligen.
Nachbarn besuchen uns, ruhen sich aus, plaudern…
An einem dieser frühen Abende sah ich auf unserem Innenhof ca. 12 unserer Kinder ruhig und andächtig in einem Halbkreis sitzen, ein paar Treppenstufen höher, auf unserer Terrasse, saßen Sam (21Jahre) und Kwadwo (10Jahre). Weder Sam noch Kwadwo können sprechen. Aber Sam sprach zu der unter ihm sitzenden Schar mit ernster Miene, ein paar gutturalen Lauten und mit zahlreichen Gesten. Die gesamte Stimmung war ernst, irgendwie feierlich. Später erfuhr ich von Nana Ayala , dass es zwischen zwei Kindern einen heftigen Streit gegeben hatte und Sam versuche nun zu vermitteln und zu schlichten. Nachdem Sam gesprochen hatte, breitete Kwadwo weit seine Arme aus, er hatte etwas Priesterliches an sich. Auch er sprach und die Kinderschar stimmte ein Lied an, etwas rau, immer wieder war ein „Halleluja“ heraus zu hören.
Am Ende klatschen alle Kinder in die Hände und das Kinderparlament wurde aufgehoben. Eine sehr friedliche Stimmung breitete sich aus, die bis hinein in unser anschließendes Staff-Meeting wirkte. Nana Ayala erzählte mir, dass dieses Kinderparlament immer wieder mal von Sam und Kwadwo einberufen wird, Sam als Richter und Kwadwo stets priesterlich auftrete.
Ich war tief berührt, merke dies jetzt noch, wo ich die Zeilen schreibe, Wochen später.
Medaase (Danke!)
Dass dieses kleine lebendige und irgendwie sehr afrikanisch gebliebene Center für Kinder mit einem Handicap überhaupt lebt und sich sogar langsam und vorsichtig immer mehr erweitert, das ist nur möglich, weil Menschen uns Geld schenken. Das erfüllt mich mittlerweile mit tiefer Dankbarkeit!
Aufgrund der heftigen Kostenexplosion in Ghana haben wir die Gehälter aller Beschäftigten für 2025 deutlich erhöhen müssen. Dankbar bin ich an erster Stelle den „Freunden der Erziehungskunst“, die uns nicht nur da,wo es Not tut, unterstützen, sondern einfach als Menschen, Freunde da sind und das kleine Center innerlich mittragen.
Den Schülerinnen und Schülern, die im Rahmen des WOW-Day unser Center unterstützt haben, danke ich von ganzem Herzen: das ist die Rudolf-Steiner-Schule Hamburg-Harburg, die Freie Waldorfschule Haan-Gruiten, die Freie Waldorfschule Köln und die Freie Waldorfschule Überlingen! Sehr herzlich danke ich allen Schülerinnen und Schülern der 8. Klasse (Gaby Potthoff), der Freien Waldorfschule Aachen, die so treu und einfallsreich Spenden einsammeln!
Herzlichen Dank auch dem Kreis der Freunde und Förderer der Emil-Molt-Schule!
Dann habe ich mich sehr gefreut, dass aus dem Dorf, in dem ich wohne, eine Spende der Pfarrwerke St.Stephanus eingegangen ist. Und der Gemeinderat Lontzen hat ebenfalls gespendet! Danke!
Hinzu kommen all die lieben Spenden von Freunden, ehemaligen Kollegen und vielen Menschen, die ich gar nicht kenne!
Und meine Familie, die mich auf so vielen Ebenen unterstützt.